Unterwegs in der Ferienregion
Giovanni Netzer – Gründer und Leiter von Origen
Wir stehen vor dem Atelier Pôss in Riom. Die leuchtendrote Fassade mit Blumenornamenten zeigt an, dass es sich um ein besonderes Haus handelt. Ein Haus, wo Kreatives entsteht. Ein Haus, das zur Kulturinstitution Origen gehört.
Das ehemalige Schulhaus ist eines von zehn historisch und architektonisch wertvollen Gebäuden, denen Origen neues Leben eingehaucht und zum Teil auch vor dem Zerfall gerettet hat. Sie stehen in Riom und Mulegns und dienen als Spielstätte, Ausstellungsraum oder Produktionsbüro; aber auch als Café, Restaurant und sogar als Hotelbetrieb. Oft sind sie vieles zugleich, denn bei Origen fliesst alles ineinander: Landschaft und Architektur, Theaterspielende und Zuschauer, Moderne und Tradition.
Auf diese Weise kreiert Origen Neues und bereichert dabei die hiesige Kulturlandschaft. So auch mit dem neuesten Projekt in Mulegns, dem Weissen Turm aus dem 3D-Drucker. In Zusammenarbeit mit der ETH Zürich entsteht das weltweit höchste von Robotern gedruckte Bauwerk. Für die Eröffnung am 25. Juni wird unter anderem Bundesrat Guy Parmelin anreisen.
Gründer, Leiter und Kreativkopf von Origen ist Giovanni Netzer. Wir dürfen dem gebürtigen Savogniner kurz bei seiner Arbeit über die Schultern schauen. Er steckt mitten in den Vorbereitungen für das Sommerprogramm 2024. Aber auch die 500-Jahr Feier «Freistaat der Drei Bünde» und natürlich die verschiedenen Bauprojekte in Mulegns beschäftigen den unermüdlichen Schaffer, Netzwerker, Visionär und Kommunikator.
Ein kreatives Zusammenspiel
Wir betreten das Atelier Pôss. Hier werden die kunstvollen Kostüme für die verschiedenen Theateraufführungen und Textilien wie Tapeten oder Vorhänge für die Gebäude in Mulegns entworfen. In den hellen Räumen liegen Stoffe ausgebreitet. Eine Näherin ist emsig am Arbeiten, während am Nebentisch Lucia Netzer und Martin Leuthold in ein Gespräch vertieft sind. Die Mutter von Giovanni Netzer führt das Atelier Pôss und der renommierte Stoff-Designer berät Origen zu textilen Fragen. Sie diskutieren mit ihren Mitarbeitenden über die Kostüme für das Freilichttheater, welches Origen im Rahmen der Feierlichkeiten «500-Jahre Freistaat der Drei Bünde» im September aufführen wird.
Nun trifft auch Giovanni im Atelier ein und begrüsst alle herzlich, die Meisten mit einer Umarmung. Dann erläutert er die verschiedenen Darsteller-Gruppen, die mitwirken werden: Mit dabei sind der Kaiser von Österreich sowie der Herzog von Mailand und Gefolge, Vertreter der Drei Bünde und nicht zuletzt Napoleon. Die Kostüme sollen deren Rollen transportieren und zugleich die Zusammengehörigkeit der einzelnen Gruppen zeigen. Und sie müssen Bewegungsfreiheit fürs Tanzen erlauben sowie genügend warm sein; denn im September kann es abends bereits kühl werden.
Giovanni beginnt die historischen Hintergründe jener Zeit zu schildern. Seine Begeisterung ist zu spüren und alle hören gespannt zu. Dann werden mögliche Farben, Materialien und Schnitte diskutiert. Immer wieder gibt sich jemand ein, während die anderen aufmerksam zuhören. Overalls werden als mögliche Form genannt. Schritt für Schritt nähert sich die Gruppe den Kostümideen, bis eine erste Grundausrichtung steht.
Was auffällt: Trotz hohem Zeitdruck und mehreren parallel laufenden Projekten herrscht eine entspannte und humorvolle Atmosphäre. Die Freude und das Herzblut der Mitwirkenden ist überall zu spüren. Sei es beim Entwerfen von Kostümen, bei Tanz- und Musikproben oder beim Besprechen des Gastronomieangebots. «Ja, das trifft durchaus zu», bestätigt Giovanni, «es ist eine spielerische, offene Haltung, die den kreativen Prozess zulässt, ja ermöglicht.»
Eng mit der Heimat verbunden
Kreativität hat in der Familie Netzer schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Vater Rudi, Lehrer und Schulinspektor, ist ein leidenschaftlicher Sänger. 46 Jahre lang dirigierte er den Chor viril Baselgia Savognin. Mutter Lucia, gelernte Damenschneiderin, wirkte jahrelang in Kreativkursen und als Moderatorin für Gutenachtgeschichten beim Rätoromanischen Fernsehen. So inszenierte Giovanni bereits mit neun Jahren sein erstes Krippenspiel zusammen mit seinen Cousinen und Cousins – drei Jahrzehnte bevor er Origen gründen wird. «Seit ich denken kann, spiele ich gerne Theater. Auch das Ministrieren in der Kirche war für mich wie Theaterspielen. Mir gefielen die inszenierten Rituale. Daher rührt wohl meine Faszination für Liturgie.» Und auch die Schwester Ursina ist kreativ tätig, sie lebt in Amsterdam und entwirft Schmuck.
Auch wenn Giovanni Netzer ein kultureller Weltbürger ist, zeichnet ihn eine ausgesprochene Verbundenheit mit seiner Heimat aus, dem Surses. «Mein Schaffen entstand immer im und mit unserem Tal. Hier habe ich meine Projekte realisiert und immer meine Inspiration geholt. Aus der Landschaft, den Dörfern, der reichen Geschichte als Passregion. Ein Fundus an Geschichten.» Der studierte Theologe und Doktor der Theaterwissenschaft sagt, dass er selber nur selten reise: «Am liebsten bin ich hier im Surses.»
Geschichten aufspüren und erzählen
Gewisse Orte, die in seinen Inszenierungen vorkommen, schaut sich Giovanni aber gerne vor Ort an. So war er zum Beispiel mehrfach in St. Petersburg oder in Paris. «Mir ist es wichtig, die historischen Bezüge zu sehen und zu spüren.» Der Theaterintendant ist fasziniert von Menschen und ihren Geschichten und liebt es, sie zu erzählen. Eine Geschichte, die es ihm besonders angetan hat, ist jene der Bündner Zuckerbäcker. «Es ist erstaunlich, wie unsere Vorfahren praktisch ohne Vorkenntnisse einfach losgezogen sind und kleine Imperien erschaffen haben, in Bordeaux, Odessa, St. Petersburg, Paris, Berlin und vielen anderen Städten.»
Viele Zuckerbäcker kehrten wieder in die Bündner Täler zurück, weil sie das Heimweh plagte und sie der Heimat etwas zurückgeben wollten. Auch Giovanni Netzer erging es ähnlich. So kam er nach langer Studienzeit und Promotion in München wieder nach Savognin zurück und gründete bald darauf Origen, das er seit 2005 stetig auf- und ausbaut.
Nach der Besprechung über die Kostüme bekommen wir kurz Gelegenheit, Giovanni Netzer ein paar persönliche Fragen zu stellen.
Giovanni Netzer, was treibt dich an?
Es ist eine kreative Grundhaltung: Ich habe Lust am Erfinden, am Ausprobieren von Neuem, am Erschaffen von Figuren, Geschichten, Räumen und Orten. Ich glaube an das, was wir tun – und das beflügelt mich.
Woher rührt diese grosse Schaffenskraft?
Kreativität ist Kraft. Es braucht Herzblut, Disziplin, sich hineinknien, dranbleiben – dann ist vieles möglich. Unsere Mitarbeitenden haben deshalb sehr viele Freiheiten, gleichzeitig ist jedoch der Anspruch an ihre Arbeit auch sehr hoch.
Machst du auch Ferien?
Ich bin frei zu machen, was ich will. Das ist eine sehr hohe Motivation, deshalb brauche ich keine Ferien. Auch Hobbys im herkömmlichen Sinn habe ich keine, denn ich unterscheide nicht zwischen Freizeit und Arbeit. Alles fliesst ineinander. Wenn ich einmal müde bin, gehe ich laufen oder nehme ein Bad zum Entspannen.
Welche Dinge magst du weniger?
All das Planen, die Sicherung der Finanzierungen und die Administration nehmen manchmal zu viel Raum neben dem Kreativen ein. Doch mir ist es wichtig, auch in diese Bereiche einzutauchen und mitzugestalten. Viele Künstler geben beispielsweise die Finanzierung völlig ab. Das möchte ich nicht, denn es macht abhängig.
Was ist dir persönlich wichtig?
Kreieren zu können. Ideen zu gestalten und Projekte umzusetzen. Wir haben bei Origen noch einiges vor. Allgemein denke ich, dass die Welt kreativer werden muss, um die Probleme zu lösen, die sich ihr stellen. Das gilt auch für das Surses. Wir können die Welt (mit) gestalten und müssen sie nicht einfach «erleiden». Mir ist eine positive, aktive Sicht wichtig.
Austausch mit der ETH
Die Zeit vergeht wie im Flug und Giovanni Netzer muss zum nächsten Termin. Eine Videokonferenz mit der ETH Zürich und den Planern des Weissen Turms steht an. Er begibt sich einen Stock tiefer, wo er sich vor dem Laptop einrichtet. Diskutiert wird über die Gestaltung der Treppen, über die Statik allgemein, über das Erdgeschoss mit dem Eingang und über den «Flaschenhals», auf dem derWeisse Turm scheinbar schweben wird.
Giovanni hat keine Notizen vor sich. Es scheint, dass er jedes Detail im Kopf hat. Punkt für Punkt geht er die verschiedenen Themen mit dem Team durch. Auch bei dieser Besprechung hört er viel und aufmerksam zu und fragt gezielt nach. Als Beobachter von aussen wird einem schnell klar, dass dieses Projekt für alle Beteiligten eine riesige Herausforderung ist, die viel Kreativität und eine hohe Flexibilität verlangt. Wie könnte es auch anders sein bei einem 29 Meter hohen, von Robotern gedruckten Turm. Doch wir haben gelernt: Origen macht scheinbar Unmögliches möglich.
Text: Franco Furger und Bettina Bergamin
Giovanni Netzer
Giovanni Netzer, geboren 1967, aufgewachsen in Savognin, erwarb die altsprachliche Matura an der Kantonsschule in Chur, studierte Theologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft an der theologischen Hochschule Chur und an der Ludwig- Maximilians-Universität in München. Netzer schloss seine Studien mit dem Lizentiat in Theologie ab und promovierte in Theaterwissenschaft über rätoromanische Barockdramen. Seit 2003 befasst er sich mit dem kontinuierlichen Aufbau des Theaterfestivals Origen. Giovanni Netzer wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem grossen Bündner Kulturpreis, dem Hauptpreis des Eliette von Karajan-Kulturfonds, dem Preis der Zürcher Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur und dem Hans Reinhart-Ring, der wichtigsten Auszeichnung im Theaterleben der Schweiz.
Zahlen und Fakten zur Nova Fundaziun Origen
- Gründung im Jahr 2005
- Mittlerweile rund 32’000 Besucher pro Jahr
- Durchschnittlich 12 Uraufführungen mit über 150 Aufführungen pro Jahr in den Bereichen Tanz, Musik und Theater
- Durchschnittlich 300 Führungen pro Jahr
- Das Festival beschäftigt pro Jahr bis zu 250 Künstlerinnen und Künstler in umgerechnet 37 Vollzeitstellen
- Origen erwirtschaftet rund 80 % seines Budgets aus Spenden und Einnahmen. Die Subventionen der öffentlichen Hand betragen rund 20 %.
- 2018 Auszeichnung mit dem Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes
- Internationale Medienpräsenz
Origens Meilensteine
Spielstätten in Riom
Mit dem Ausbau der Burg Riom konnte eine der wichtigsten Burganlagen des Kantons erhalten und neu genutzt werden. Mit der Villa Carisch wurde das ehemalige Herrenhaus als wichtiger Zeitzeuge der Gründerzeit in Graubünden neu belebt. Die 2015 eröffnete Clavadeira (Scheune) ermöglichte erstmals Aufführungen im Winter und hat sich als Musiktheater etabliert.
Die Landschaft ist Bühne
Origen hat sich in den vergangenen Jahren mit dem Theaterspiel in der extremen Landschaft beschäftigt und damit neue Massstäbe gesetzt. Ob auf dem Julierpass, im Zürcher Hauptbahnhof, auf dem Staudamm von Marmorera oder mitten im Winter bei der Oberengadiner Seenlandschaft u.v.m. Unvergessliche Erlebnisse vor grandiosen Kulissen.
Verleihung des Wakkerpreises
Im Jahr 2018 erhielt die Nova Fundaziun Origen den renommierten Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes für den sorgfältigen Umgang mit dem gebauten Kulturerbe in Riom. Die Auszeichnung einer privaten Organisation war ein mutiges Novum in der Geschichte des Wakkerpreises.
Bau des Julierturmes
Einen weiteren Meilenstein setzte Origen mit der Eröffnung des Roten Turms auf dem Julierpass. Bundespräsident Alain Berset lud die Staatsoberhäupter deutschsprachiger Länder im September 2018 zum Staatsempfang auf den Turm. 2023 wurde der Rote Turm wie versprochen abgebaut.
Das Engagement für Mulegns
Seit 2018 engagiert sich Origen für Mulegns. Gründe dafür waren der schleichende Verfall der hochwertigen Gebäude, die fehlende Nachfolge im Hotelbetrieb und die Baupläne für die Julierstrasse. Dabei wurde 2020 die Weisse Villa gleich neben dem Post Hotel Löwe um einige Meter verschoben und damit die Rettung des gesamten Ensembles ermöglicht. Ab Ende Juni 2024 ergänzt der weltweit höchste 3D gedruckte Turm – der Weisse Turm – die Bauwerke in Mulegns.